Die gestalterische Sprache der orthodoxen Kirchenarchitektur

…Raum und Zeit und beider Kind, die Gestalt…
Rudolf Schwarz

Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zählten die Kirchen zu den prägenden Wahrzeichen der Siedlungsbilder und der bewohnten christlichen Welt. Trotz der starken Minderung ihrer Rolle in der heutigen Gesellschaft stellen die Kirchenbauten ein reichhaltiges und vielschichtiges Beispiel von Multidisziplinarität dar.
Eine Sprache ist durch einen Wortschatz und eine Grammatik definiert. Sie ist grundlegend für jede Art von Ausdruck. Aber wie ist die Sprache definiert? was beinhaltet die Wortschatz? wie sehen die Regel der Grammatik aus?
In der Architektur hängt dies fast immer vom Architekturprogramm ab. Eine Kuppel ist nicht einfach eine Hälfte einer Kugel, eine Wand ist nicht einfach eine vertikale Ebene, ein Fenster ist nicht einfach ein Loch.

Der Bau der Kirche ist eine sublime Synthese aller fortgeschrittenen Erkenntnisse der Natur- und Humanwissenschaften, die zum Zeitpunkt ihrer Errichtung vorlagen. Seit mehr als eineinhalb Jahrtausenden definieren sie deren Außenraum – sei es Stadt, Dorf oder auch Wüste – und gleichzeitig versuchen sie, den Innenraum als Abbild des himmlischen Reichs zu gestalten.
Die Kirchen sind orientiert (nach Osten gerichtet) und orientieren den Raum. Durch die Präsenz der Kirchen bekommt die Welt eine bestimmte Ordnung. Sie ist vor allem auf der Ebene der Siedlung sichtbar, aber auch auf der Ebene des Raums, den sie in der unmittelbaren Nachbarschaft schafft.

Die ersten Jahrhunderte des Christentums waren von starken Konflikten mit dem Staat geprägt. Das Problem der Christen war fast ausschließlich das Problem des Bekenntnisses. Wie kann man das tun, was kann das bedeuten? Aus diese Fragen entwickelt sich das Format erster Gottesdienste. Da diese in umfassender Weise symbolisch und hinsichtlich ihrer Kerninhalte geheimnisvoll sind, bedürfen sie eine dafür geeigneten Räumlichkeit.

In dem Innenraum befindet sich eine andere Welt. „It is a religion of smells and bells.“ als Robert Taft sagt.

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Erst mit der Anerkennung des Christentums 325 durch Konstantin den Großen als religio licita  wurde der echte Kirchenbau möglich. Die christliche Kirche begann ihre architektonische Entwicklung mit der Übernahme von Modellen bedeutender Gebäude der Zeit. Das Problem der Sprache, wie die Kirchen die wesentlichen Themen der Liturgie darstellen können, wurde theologisch weiter ausgearbeitet.
Die Gebetsräume sind in dieser Zeit noch nicht definiert. Sie sind aus den Räumen der Machtstrukturen inspiriert. Sie entwickeln sich zusammen mit der Entwicklung der theologische Begriffe. Das war in der Zeiten der Verfolgung natürlich nicht möglich.

Die Versuchungen in Gestaltung der neuen Kirchenbauten haben gleichzeitig angefangen. Die griechische Philosophie und Mathematik ist vielleicht die wesentliche Teil dieser neue geometrische Ansatz. Natürlich, diese alte Methode waren mit den christliche Symbole belastet.

Also in dieser Zeit wurde die erste Zusammenfassung zwischen Baukunst und Theologie geschaffen. Sie ist erst  zwei Jahrhunderten später sichtbar, unter Kaiser Justinian I, als in der Hagia Sophia Kirche in Konstantinopel die erste göttliche Liturgie gefeiert wurde. Während der 5 Jahren Bauzeit, kamen neben den beiden ersten Disziplinen – Baukunst und Theologie – auch Mathematik und Physik durch den Entwurf von Isidor von Milet und Anthemios von Tralleis ins Spiel.

Eine andere Problem der ersten Zeiten Christentums ist —wie heute — da Budget. Am Anfang die neue Kirchen waren nur mit Unterstützung der Sponsoren gebaut. Drei Jahrhunderte später, als das Christentum zur Staatsreligion wurde, wurde der Zugang zum kaiserlichen Haushalt geöffnet. 

Kaiser Justinian führt die nunmehr vier Disziplinen mit Politik und Wirtschaft zusammen.

Ein Schritt vor die Gestaltungsversuchungen war die theologische Definition der Begriffe. Eine Milestone auf dieser Weg ist der H. Maximus der Bekenner. Er ist der erste der die Beziehungen zwischen die sichtbare und unsichtbare Welten in Worten ausgedrückt hat.

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Die nächste wichtige Etappe in der Geschichte des Kirchenbaus wurde im IX. Jahrhundert nach den beiden Phasen des Bilderstreits erreicht. Die vorliegende Epoche ist aus zweierlei Gründen von Bedeutung. Zum einen üben die politischen und wirtschaftlichen schwerwiegenden Probleme des Reiches einen maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung des Kirchenbaus aus. Diese Entwicklung lässt sich insbesondere an den Maßen der Kirchen ablesen. Zum zweiten hatte das Byzantinische Reich vor der Zeit des Bilderstreits tiefe theologische Erschütterungen erlebt, die in einer grundlegenden Neudefinition der Theologie der Ikone gipfelten. In der Zeit nach dieser wichtigen Krise integrierte die Kirchenarchitektur die wesentlichen Elemente, die die Ikonographie (auch als Symbolik verstanden) in den liturgischen Raum einbringt.
Die Synthese dieser sieben Disziplinen (Baukunst, Theologie, Mathematik, Physik, Politik, Wirtschaft, Ikonographie/Malerei) in einer vereinten Betrachtung stellt das Bild der Kirchenarchitektur am Ende des ersten Jahrtausends dar. Trotz zahlreicher und grundlegender Änderungen innerhalb dieser Disziplinen, hat diese Zusammenfassung bis zum heutigen Tage Bestand.

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Wie sieht der Bau einer Kirche, beruhend auf diese sieben Dimensionen, in der Gegenwart aus? 

Die heutigen Materialien und Bautechniken sowie die Besonderheiten der Bauindustrie bieten spezifische Ausdrucks- und Konstruktionsmöglichkeiten. Die Theologie und die Anforderungen des Rituals sind eng mit der Ewigkeit verbunden und stehen daher in einem anderen Verhältnis zu den heutigen technologischen Fortschritten. Es scheint ein grundlegender Widerspruch zwischen diesen beiden Disziplinen zu bestehen.

Wie zur Zeiten von Isidor und Anthemios vermitteln Mathematik und Physik zwischen ihnen. Die Mathematik bietet immer Modelle an. Die Theologie bringt ihre eigenen aus der Geschichte überlieferte Modelle mit, die unverändert sind und immer wieder neu interpretiert werden können. Die heutigen Techniken beinhalten immer verfeinerte mathematische Modelle, wie beispielsweise die heutigen Planungstechniken, die auf BIM und parametrisierten generativen Prozessen basieren. Die Bauphysik schlägt ständig Materialien mit noch nie dagewesenen Eigenschaften vor.

Der architektonische Ausdruck ist idealerweise heute von dem Einklang zwischen den Anforderungen des Kultes und den Möglichkeiten der gegenwärtigen Materialien gewährleistet. 

Die Förderung dieser Bestrebungen durch die Politik ist jedoch seit längerer Zeit nicht mehr möglich. Seit mehr als hundert Jahren stellt der Kirchenbau keine Priorität der europäischer Regierungen mehr dar.

Die politischen Anforderungen werden heute durch die städtischen Regulierungen ausgedrückt. Die Fragen, wo die Kirche bebaut werden kann und wie sie aussehen darf sind nicht mehr direkt von der Politik geprägt, sondern von der zuständigen Behörde genehmigt. Die Freiheit der Kirchenarchitektur ist jetzt unbeschränkt. Die orthodoxe Kirchenarchitektur ist gegenwärtig nicht länger ein Wille der Regierungen sondern ein eindeutiger Ausdruck der Gemeinden.

Die Verantwortung für die Weiternutzung der Kirchen, unabhängig von der Konfession, liegt heute bei den Gemeinde. In Bezug auf die neu zu errichtenden Objekte besteht die Möglichkeit Grundstücke oder bereits bestehende Immobilien zu erwerben, um diese entweder neu zu bauen oder in orthodoxe Gebetsräume umzuwandeln. Der zweite Fall stellt eine besondere Herausforderung sowohl für den Architekten und seine Mannschaft sowie für den Theologen dar. 

Die Finanzierung des Kirchenbaus erfolgt heute nahezu ausschließlich über die Möglichkeiten der Gemeinden. Falls eine Unterstützung seitens der Politik erfolgt, ist diese nicht zwangsläufig auf den Bau der Kirche ausgerichtet, sondern dient in erster Linie der Förderung der Gemeinde.

Unter diesen Voraussetzungen sind die Architekten gefordert, die Kosten so gering wie möglich zu halten wobei die architektonische Gestaltung dennoch der Botschaft der Kirchenarchitektur zu entsprechen muss.

Die Konfiguration der eigenen Welt stellt einen wesentlicher Aspekt der Identität jeder dieser Gemeinden dar. Sie haben dafür einen Modell, das Reich Gottes, das durch die Innenarchitektur der Kirche ikonisch dargestellt ist.